Abdul und Amir sind Zwillingsbrüder. Sie auseinanderzuhalten, ist schwierig. Einziges Unterscheidungsmerkmal: Der eine trägt den Scheitel links, der andere rechts. Gross geworden sind die beiden jungen Männer in Afghanistan. Im November 2015 kamen sie als unbegleitete minderjährige Asylbewerber in die Schweiz. Über Zürich führte sie ihr Weg in ein Jugendheim nach Huttwil. Nach sechs Monaten ging die Reise weiter nach Täuffelen im Seeland.
Berufslehre unbekannt
In der Folge besuchten Abdul und Amir in Biel zwei Berufsvorbereitende Schuljahre. Hier wurden sie systematisch auf den Einstieg in die Berufswelt vorbereitet. Im Rahmen von praktischen Kursen lernten sie verschiedene Berufe kennen. «Wir mussten völlig umdenken», erinnert sich Abdul. «In unserer Heimat gibt es nur schulische Ausbildungen. Die Berufslehre kannten wir nicht.» Aufgrund seiner Eindrücke arbeitete Abdul auf den Montageelektriker hin. Er bewarb sich fleissig, erhielt aber nur Absagen. Um seine Chancen zu verbessern, absolvierte er einen brancheneigenen Eignungstest, schnitt gut ab und legte die Resultate fortan der Bewerbung bei. Bald darauf konnte er schnuppern gehen und erhielt einen Ausbildungsplatz bei der swisspro Group. Inzwischen ist er im dritten und letzten Lehrjahr.
Im gleichen Lehrbetrieb
Der Weg von Zwillingsbruder Amir verlief praktisch identisch – und doch unterschiedlich. Sein Lehrer im Berufsvorbereitenden Schuljahr riet ihm zu einer zweijährigen Berufslehre. Obschon er seine Erwartungen damit zurückschraubte, gelang es ihm nicht, eine Lehrstelle zu finden und so stand er kurz vor Schulschluss noch ohne Lösung da. Erst im letzten Moment fand er eine Vorlehrstelle im selben Berufsfeld wie sein Bruder. Da eine anschliessende reguläre Lehre im Vorlehrbetrieb nicht möglich war, versuchte Amir sein Glück ein Jahr später ebenfalls bei der swisspro NW AG und erhielt prompt eine Zusage. Er ist mittlerweile im zweiten Lehrjahr.
Vorzügliche Lernende
«Wir gaben beiden gerne eine Chance», sagt rückblickend Daniel Schwab, Projektleiter und Berufsbildner der swisspro NW Bern. «Abdul zeigte in der Schnupperlehre hohe Motivation und guten Einsatz.» Das habe ihn überzeugt. Und weil es bei Abdul so gut lief und sich auch Amir vorteilhaft präsentierte, wollte Schwab den Bruder ebenfalls an Bord haben. Bereut hat er diesen Entscheid noch nie. Im Gegenteil: Beide Lernenden sind vorbildlich unterwegs – und zwar sowohl im Betrieb als auch in der Berufsfachschule. Die Schulnoten sind vorzüglich. Auch bei der praktischen Arbeit überzeugen Abdul und Amir. Im Team sind sie bestens integriert. Schwab schätzt an den beiden besonders, dass sie fähig sind, lösungsorientiert zu arbeiten.
Leben mit Perspektive
Auch Abdul und Amir sind zufrieden mit dem Erreichten. Sie mögen ihr Team und schätzen den Kontakt zu den anderen Lernenden in der Klasse und zu den Lehrpersonen. «Die Arbeit auf der Baustelle macht Spass», betont Amir. «Es ist schön, die Kundenwünsche umzusetzen und am Schluss das Resultat der Arbeit zu präsentieren.» Den beiden Brüdern bedeutet es viel, einen Beruf erlernen und einen Abschluss machen zu können. Dafür sind sie buchstäblich einen weiten Weg gegangen. «Der Abschluss ist die Grundlage für ein selbstständiges Leben», bringt es Abdul auf den Punkt. «Eine solche Perspektive hatten wir in unserem Heimatland nicht.» Nach dem Lehrabschluss möchten Abdul und Amir arbeiten und weiterlernen. Sie träumen davon, irgendwann gemeinsam einen eigenen Betrieb zu führen. Sie wissen, dass dieses Ziel hochgesteckt ist und der Weg dazu weit. Aber gerade darin sind die beiden schliesslich erfahrene Experten. «Es geht darum, immer den nächsten Schritt zu tun», verraten sie lachend.
Zum Artikel in der Berner Zeitung:
BZ_Stadt__Region_Bern_Erfolgreiche-Migranten